Ich bin weitaus nicht die erste Person, die dieses Thema anschneidet, und werde auch nicht die letzte sein. Im Endeffekt ist aber genau das am wichtigsten. Jeder, der etwas zu sagen hat, zu einem ihn betreffenden kritischen Thema oder Problem, sollte sich die Zeit nehmen, um es zu teilen. Dabei sind die Fragen "Wo, wann, mit wem, oder wie?" eindeutig zweitrangig.
Wenn ich darüber nachdenke, in Deutschland über Bulgarien zu erzählen, über das, was Bulgarien für mich ist, wird mir jedes Mal klar, dass die meisten Menschen ein sehr eingeschränktes Bild von osteuropäischen Ländern haben. Natürlich kann man auch das nicht verallgemeinern, und es gibt sehr viele, deren Horizont in diesem Bereich sehr weit ist, trotzdem ist das Problem alltäglich anwesend und grundlegend. Ich fange dann an mir die Frage zu stellen, wie kann ich am besten das weitergeben, was für mich Osteuropa und vor allem Bulgarien bedeutet?
Um kurz und knapp mit ein paar Stichworten zu beginnen, die am öftesten mit Bulgarien verbunden werden: Zigeuner, hohe Kriminalitätsrate (Gefährlich!!!), Armut, Sonnenstrand, "irgendwo da unten am Schwarzen Meer", ..., äh... ja, das war's auch schon irgendwie.
Hm.
Zigeuner, jap, gibt es, gibt es sogar viele, sind aber genauso wie wir auch nur Menschen und werden von den meisten Bulgaren nicht mal als Bulgaren angesehen, was an sich schon mal ein großes Problem innerhalb des Landes ist, auf das ich aber ein anderes Mal eingehen werde. (Ansonsten könnte ich allein dafür ein 100-Seiten-Buch schreiben.)
Kriminalität, eines der größten Vorurteile gegenüber den Balkanländern. Nach nur 5 Minuten Recherche geht aus den simpelsten Statistiken und Ranglisten hervor, dass in der EU die Staaten Osteuropas keineswegs Spitzenplätze einnehmen. Da man sich mit solchen Grafiken ja doch ab und zu etwas vom wirklichen Alltag entfernt, ist es wichtig sich die kurze Frage zu stellen: "In wie fern bin ich in diesem Land in Gefahr, Opfer von einem Verbrechen zu werden?" Meine Antwort: Egal welche Region dieser Welt, überall ist es für bestimmte Gruppen der Gesellschaft an bestimmten Orten unangenehm und nicht empfehlenswert, nachts alleine draußen zu sein. Das verändert sich nicht für Deutschland, Bulgarien, Schweden, die Schweiz, Amerika, Russland, oder welche Nation dir auch einfallen mag. Wenn man sein Fahrrad und sein Portemonnaie behalten will, dann sollte man ein Schloss und die innere Jackentasche verwenden, und am ehesten noch seinen Verstand. Bulgarische Straßen sind nicht gefährlicher, Taschendiebe trifft man auch in Berlin an jeder Ecke.
Die Bürgersteige sind vielleicht nicht gut erhalten, man stolpert von Zeit zu Zeit, muss mal um ein großes Loch herumgehen oder auf den Treppen in die Unterführungen ein bisschen Acht geben. Wenn man sich aber mit offenen Augen bewegt, kommt man sehr heil ans Ziel, hat vielleicht etwas Neues gesehen, eine Blume zwischen den Platten entdeckt oder ein bisschen Straßenkunst bewundern können.
Das billige Urlaubsziel, welches Bulgarien durch den Sonnenstrand und die Skiresorte geworden ist, führt mich direkt zum nächsten Punkt. Die Natur. Mit etwas mehr als 110.000 km² Fläche sind wir bei weniger als einem Drittel der Fläche Deutschlands, vergleichsweise ein wirklich kleines Fleckchen Erde also. Auf diesem Platz aber sind unzählige Landschaften vereint: zuerst die Berge, der Balkan oder auf bulgarisch "Stara planina" (Altes Gebirge), Pirin, Rila, die Rhodopen, mit den unzähligen Wipfeln, Tälern, skurrilen, atemberaubenden Felsbildungen, märchenhaften Höhlen
und Wasserfällen, und dann noch Vitosha. Ein 2000-m-Berg, eine halbe Stunde Autofahrt vom Hauptstadtzentrum entfernt und von allen Seiten herausragend, die Häuserblöcke einrahmend, birgt eine wirklich zauberhaft schöne Welt. Die Donau als Grenze zu den Rumänen, die meine Gastoma bei unseren Spaziergängen durch Rousse mit einem Blick auf die andere Seite immer ganz liebevoll "unsere Nachbarn" genannt hat. An wie vielen anderen Orten ist es wohl möglich auf mehr als 2500 m über dem Meeresspiegel durch den Schnee zu wandern und weniger als 5 Stunden später am Strand zu stehen und die Wellen zu beobachten?
All diese Orte tragen noch etwas anderes ganz bedeutendes in sich. Geschichte. Bulgarien ist schon seit über 7000 Jahren in der ein oder anderen Form Bulgarien und hat einiges gesehen. Die Thraker mit ihren unerfassbaren Goldschätzen und Grabanlagen als eine Hochkultur, von der die meisten griechischen und römischen Götter, wie wir sie heute kennen abstammen, was aber den wenigsten bekannt ist. Das Byzantinische Reich, Jahrtausende von Königen, Kriegen, Bekehrung zum Christentum, Entwicklung des Kyrillischen Alphabets (Nein, es ist nicht "das russische Alphabet", sondern von den Brüdern Kyrill und Method entwickelt und später nach Russland gebracht.), 500 Jahre unter grausamer, blutiger osmanischer Regierung, viele Jahre des Aufstandes und des Befreiungskampfes. All diese Ereignisse sind in unseren Geschichtsbüchern nicht zu finden, aber mindestens genauso interessant und wichtig für die historische Entwicklung Europas. "Europa", das so oft eigentlich "(Nord-)Westeuropa" bleibt, eine Union mit Außenseitern, wobei doch alle Länder den gleichen Wert haben. Oder haben sollten. 5 Minuten in der Geschichtsstunde lassen sich nicht finden, um zu erwähnen, dass Bulgarien der einzige Alliierte Deutschlands im zweiten Weltkrieg war, der es geschafft hat, seine Juden vor den Konzentrationslagern zu retten, indem sie in den Bergklostern der orthodoxen Christen versteckt wurden.
Natürlich macht diese Vergangenheit noch lange kein wirtschaftlich starkes, politisch stabiles Land. Der durchschnittliche Monatsgehalt (Brutto) liegt bei ca. 400 Euro, Rentner müssen sich oft mit 50 Euro oder weniger durchschlagen. Fast keiner wächst hier in einem Ein- oder Mehrfamilienhaus mit Garten auf. Die Wohnblöcke sind nicht saniert und in den Morgenstunden kann es auch mal vorkommen, dass einige Zeit kein Strom fließt. Der Preis für warmes Wasser, Heizung und Strom frisst den Großteil des Einkommens. Kurz und knapp: Es herrschen andere Umstände. Solche Extrempunkte von "Gut" und "Schlecht" stellen aber weitaus nicht die Wahrheit dar, sie verzerren sie sogar ziemlich. So eine "Wahrheit" ist aber auch für jeden etwas anderes, jeder erlebt die Orte dieser Welt auf unterschiedliche Weise, macht andere Erfahrungen, wächst anders auf, hat einen anderen Hintergrund, trifft vor allem andere Menschen.
Menschen. Sie sind das, was eigentlich unser Bild von etwas ausmacht. Sie sind das, worauf wir hinter den Grenzen treffen. Sie sind das Leben in den Straßen der Städte, die wir alle so unbedingt gerne bereisen wollen.
Charakter macht Schönheit, es ist ein ziemlich einfaches Konzept. Ein angeblich makelloser Mensch wird für dich niemals schön sein, solange sein Charakter und Verhalten, sein Inneres nicht mit deinen Vorstellungen übereinstimmt. Genauso ist es mit Ländern oder jedem anderen Ort. Die Gebäude und Straßen können noch so sauber und saniert, antik und mit wunderschönen Verzierungen sein, die Strände idyllisch und das Essen exzellent, all das wird dir nicht helfen, wenn die Personen und Erfahrungen, die du mit diesem Bild verbindest, grob und kalt sind. Sobald die Menschen dir helfen, dich zurechtzufinden, dir mit Geduld und Liebe ihre Welt zeigen (mit der Vorraussetzung, dass du sie sehen willst) fängst du an, die Schönheit in den Dingen zu sehen. Wenn abends die Lichter in den unzähligen Fenstern der unzähligen Wohnblöcke angehen, dann sind es nicht hässliche, heruntergekommene, graue Sozialismusbauten, nein, sie haben etwas unbegreifliches in sich. Die Geschichten von Millionen von Menschen hinter diesen Scheiben, unzählige Leben, die wir nicht kennen, die aber einen anderen genau in diesem Moment bezaubern. Wenn man zusammen mit einem guten Freund in Lachen ausbricht, weil einer von euch mal wieder nicht aufgepasst hat, über eine hochstehende Platte gestolpert und fast auf die Nase geflogen ist. Wenn dir mit einem breiten Lächeln erklärt wird, dass die kleinen losen Bodenplatten, unter denen sich bei Regen sehr viel Wasser sammelt, "Spuckende Platten" genannt werden, weil sie einen wortwörtlich anspucken, wenn man zu sehr auf eine Seite tritt und dann das Wasser darunter hervorspritzt und dir deine gesamte Hose nass macht. Wenn man zum ersten Mal nach einem Tag Arbeit mit einer Brotscheibe aus dem riesigen Kessel, die liebevoll über dem Feuer aus Gartenzutaten gekochte Ljutenitza probiert, bei strahlendem Sonnenschein im September. In einem winzigen Dorf, wo nur noch alte Menschen leben, die aber mindestens einmal im Monat von ihren Kindern besucht werden, die dem schnellen und hektischen Stadtleben entfliehen. Wenn deine Baba einfach nicht glauben kann, dass es dir geschmeckt hat, falls du mal nicht noch 2 weitere Teller essen kannst, weil es wohl irgendein Naturgesetz geben muss, das es ihr wirklich und wahrhaftig unmöglich macht, dir zu glauben, und dein Teller dann einfach ohne weitere Diskussion noch mal aufgefüllt wird. In all diesen kleinen Momenten wird dir die Schönheit dieses Landes und seiner vielen wunderbaren Menschen bewusst. Es ist klar, dass es von all dem irgendwo auch eine Kehrseite gibt, oder etwas zwischendrin, aber genau diese "Makel" vervollständigen das Bild. Bulgarien ist nicht einfach nur ein billiges Urlaubsland für Westeuropäer oder armes Balkanland.
Bulgarien ist da, wo jeder eine Meinung und Geschichte zu allem hat und sie dir auch furchtbar gerne in ausschweifenden Diskussionen darlegt. Da, wo unglaublich viel gelächelt, gelacht, getanzt, gesungen und erzählt wird, und vor allem: Da, wo es immer Zeit gibt.
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